Philosophieren ist Fragen nach dem Außer-ordentlichen.

Philosophieren ist Fragen nach dem Außer-ordentlichen.

Wortbedeutung:

sich heraushebend, absetzend; außergewöhnlich, ungewöhnlich, überdurchschnittlich,

außerhalb einer verfassten Ordnung liegend.

 

Philosophieren ist Fragen nach dem Außer-ordentlichen. Weil jedoch, wie wir erst nur andeuteten, dieses Fragen einen Rückstoß auf sich selbst erwirkt, ist nicht nur das, wonach gefragt wird, außerordentlich, sondern das Fragen selbst. Das will sagen: Dieses Fragen liegt nicht am Wege, so daß wir eines Tages unversehens und gar versehentlich in es hineingeraten. Es steht auch nicht in der gewöhnlichen Ordnung des Alltags, so daß wir auf Grund irgendwelcher Forderungen und gar Vorschriften dazu gezwungen wären. Dieses Fragen liegt auch nicht im Umkreis der dringlichen Besorgung und Befriedigung herrschender Bedürfnisse. Das Fragen selbst ist außer der Ordnung. Es ist ganz freiwillig, völlig und eigens auf den geheimnisvollen Grund der Freiheit gestellt, auf jenes, was wir den Sprung nannten. Derselbe Nietzsche sagt: »Philosophie ... ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge« (XV, 2). Philosophieren, so können wir jetzt sagen, ist außer-ordentliches Fragen nach dem Außer-ordentlichen.

 

Φυσις – Natur

 

Im Zeitalter der ersten und maßgebenden Entfaltung der abendländischen Philosophie bei den Griechen, durch die das Fragen nach dem Seienden als solchem im Ganzen seinen wahrhaften Anfang nahm, nannte man das Seiende Φυσις. Dieses griechische Grundwort für das Seiende pflegt man mit »Natur« zu übersetzen. Man gebraucht die lateinische Übersetzung natura, was eigentlich »geboren werden«, »Geburt« bedeutet. Mit dieser lateinischen Übersetzung wird aber schon der ursprüngliche Gehalt des griechischen Wortes zerstört. Das gilt nicht nur von der lateinischen Übersetzung dieses Wortes, sondern von allen anderen Übersetzungen der griechischen Philosophensprache ins Römische. Der Vorgang dieser Übersetzung des Griechischen ins Römische ist nichts Beliebiges und Harmloses, sondern der erste Abschnitt des Verlaufs der Abriegelung und Entfremdung des ursprünglichen Wesens der griechischen Philosophie. Die römische Übersetzung wurde dann maßgebend für das Christentum und das christliche Mittelalter. Dieses setzte sich über in die neuzeitliche Philosophie, die sich in der Begriffswelt des Mittelalters bewegt und dann jene geläufigen Vorstellungen und Begriffsworte schafft, mit denen man sich heute noch den Anfang der abendländischen Philosophie verständlich macht. Dieser Anfang gilt als solches, was die Heutigen als angeblich Überwundenes längst hinter sich gelassen haben.

 

Wir aber überspringen jetzt diesen ganzen Verlauf der Verunstaltung und des Verfalls und suchen die unzerstörte Nennkraft der Sprache und Worte wieder zu erobern; denn die Worte und die Sprache sind keine Hülsen, worin die Dinge nur für den redenden und schreibenden Verkehr verpackt werden. Im Wort, in der Sprache werden und sind erst die Dinge. Deshalb bringt uns auch der Mißbrauch der Sprache im bloßen Gerede, in den Schlagworten und Phrasen um den echten Bezug zu den Dingen. Was sagt nun das Wort Φυσις. Es sagt das von sich aus Aufgehende (z. B. das Aufgehen einer Rose), das sich eröffnende Entfalten, das in solcher Entfaltung in die Erscheinung Treten und in ihr sich Halten und Verbleiben, kurz, das aufgehend-verweilende Walten. Lexikalisch bedeutet Φυσις wachsen, wachsen machen. Doch was heißt wachsen? Meint es nur das mengenmäßige Zu-nehmen, mehr und größer Werden?

 

Die Φυσις als Aufgehen kann überall, z. B. an den Vorgängen des Himmels (Aufgang der Sonne), am Wogen des Meeres, am Wachstum der Pflanzen, am Hervorgehen von Tier und Mensch aus dem Schoß, erfahren werden. Aber Φυσις, das aufgehende Walten, ist nicht gleichbedeutend mit diesen Vorgängen, die wir heute noch zur »Natur« rechnen. Dieses Aufgehen und In-sich-aus-sich-Hinausstehen darf nicht als ein Vorgang genommen werden, den wir unter anderen am Seienden beobachten. Die Φυσις ist das Sein selbst, kraft dessen das Seiende erst beobachtbar wird und bleibt.

 

Die Griechen haben nicht erst an den Naturvorgangen erfahren, was Φυσις ist, sondern umgekehrt: aufgrund einer dichtend-denkenden Grunderfahrung des Seins erschloß sich ihnen das, was sie Φυσις nennen mußten. Erst aufgrund dieser Erschließung konnten sie dann einen Blick haben für die Natur im engeren Sinne. Φυσις meint daher ursprünglich sowohl den Himmel als auch die Erde, sowohl den Stein als auch die Pflanze, sowohl das Tier als auch den Menschen und die Menschengeschichte als Menschen- und Götterwerk, schließlich und zuerst die Götter selbst unter dem Geschick. Φυσις meint das aufgehende Walten und das von ihm durchwaltete Wahren. In diesem aufgehend verweilenden Walten liegen »Werden« sowohl wie »Sein«, im verengten Sinne des starren Verharrens, beschlossen. Φυσις ist das Ent-stehen, aus dem Verborgenen sich heraus- und dieses so erst in den Stand bringen.